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Bilanz Sommer 2006

Immer wieder stolpere ich über Formulierungen rund um Dominiks und meine Geschichte der letzten Monate. Eine Geschichte, bei der es, so muss man wohl annehmen, um Krankheit und um’s Sterben geht. Aber dem ist nicht so. Oder wenigstens nicht nur! Wenn ich schreibe: „Dominik ist seit gut drei Monaten tot“, so hört sich das in meinen Ohren total falsch an. Und wenn ich z.B. schreibe: „während seiner Krankheitsgeschichte“ hört sich das noch viel falscher an! Und was ist daran falsch? Dominik ist für mich nicht „tot“. Er lebt nach wie vor, wenn auch in ganz anderer Form. Und er oder wir hatten keine „Krankheitsgeschichte“. Der Zeitraum, wo wir wussten, dass der Krebs in ihm ist, war reich an tiefen Erkenntnissen und starken Erfahrungen, geprägt von Hinhören und Hinschauen. Natürlich war da auch manchmal ein Bangen, Hadern und Zweifeln, immer wieder tiefe Traurigkeit und selten, sehr selten Zorn. Aber weit bemerkenswerter war die grenzenlose und bedingungslose Liebe, auf die Dominik, so scheint mir heute, zielbewusst hinsteuerte. Er empfand den Krebs nie als Widersacher und die Geschichte, die aus dem Auftauchen dieses Prüfsteins oder Schicksals entstand, ist keine Krankengeschichte, sondern eine Geschichte voller Liebe, Leben, Hingabe, Wachstum, Loslassen, Lernen und Lehren.

 

Wie immer, wenn ich ganz bei mir bin, scheint Dominik ebenfalls anwesend zu sein. Ich sitze draussen auf der Terrasse von Ruth, die Sonne hat einen leicht rosa gefärbten Wolkenhimmel dem bald auftauchenden Mond überlassen. Es kehrt langsam Ruhe in die Gassen und ich habe den ganzen Abend Zeit, diese Bilanz zu schreiben. Ich denke, Dominik hilft mir dabei.

Ich habe all die Stationen der letzten Wochen zusammen getragen und festgehalten. Im Bemühen, sie für die Bilanz zu verwerten bin ich kläglich gescheitert. Diese Geschichte hat so viel Gehalt, dass es den Rahmen hier sprengen würde. Ausserdem habe ich erkannt, dass ich für die Aufarbeitung des ganzen Geschehens noch sehr viel mehr Zeit brauche. Einerseits. Andererseits lebe ich auch sehr im Moment. Schon jetzt spüre ich, wie viel aus dieser Zeit sich langsam setzt und bei mir einen eigenen Prozess in Gange hält. Aber wichtig für mich sind die jetzigen Momente und nicht jene von damals. Hinzu kommt mein Eindruck, alles Wichtige bereits im Abschiedsbrief, welchen ich auf Dominiks Intimseite publiziert habe, gesagt zu haben. Es ist die Essenz aus dieser Zeit.

 

Schon öfters habe ich mich gefragt, warum mir dies alles widerfährt. Wieso verliere ich meinen Vater und gleich anschliessend meinen Lebensgefährten. Wieso? Was will mir das sagen? Ich habe gelernt, dass der Tod nicht ein Ende bedeutet. Er verwandelt... Ich bin immer noch ich, auch wenn nicht mehr jene von damals. Und Dominik ist immer noch da. Auch mein Vater. Dominiks Wesen, sein „Licht“ leuchtet mir wenn nötig den Weg und ich weiss, ich habe noch viel zu lernen. All die Menschen, die uns scheinbar verlassen, verlassen „nur“ diese unsere bekannte Welt, um in einer anderen, uns unbekannten Welt weiter zu existieren. Mir zeigt der Tod von Dominik, dass es noch viel mehr gibt, als wir in unserer „begrenzten“ Welt manchmal annehmen. Begrenzt sind allerdings die Möglichkeiten der materiellen Erfahrung. Nie mehr werde ich Dominiks Körper spüren können, nie mehr werd ich ihn in die Arme nehmen können, nie mehr werde ich sein Lachen hören und nie mehr werd ich ihn am Himmel fliegen sehen. Doch alles, was er gleichzeitig jenseits von diesen materiellen Dingen war, ist immer noch hier... Nun, ich weiss nicht viel. Ich bin auf der Spur, bin am Spüren und Bewusst werden lassen. Lebensaufgaben sind Aufgaben für’s ganze Leben, oder?

 

Ende Juli reiste ich mit einer Freundin im Womo nach Dänemark. Ich musste Abstand schaffen, zu mir finden. Während den vier Wochen, die wir unterwex waren, hatte ich das permanente „verrückte“ Gefühl, in Dominik versetzt worden zu sein! Ich fühlte mich wie er und meine Reisegefährtin spiegelte ständig mich selbst während unserer früheren Reisezeit. Ich konnte auf einmal nachempfinden, was Dominik damals empfand und wie seine innere Welt aussah. Es war, wie wenn ich in seine Haut schlüpfen konnte und von tief innen nachempfinden konnte, wie es sich anfühlte, wenn er zum Bespiel am Strand spazieren ging oder wie sein Lebensgefühl war, auf der Suche nach sich selbst und der Liebe! Nach seinem Tod hatte ich ja einige Zeit Mühe, den „alten“ Dominik, so wie er auf Reisen war, und den „neuen“ Dominik, zu dem er sich in seinen letzten Wochen gewandelt hatte zusammen zu bekommen. In Dänemark erlebte ich das Zusammenfliessen dieser zwei Seiten Dominiks! Es war erschütternd, verblüffend und gleichzeitig auch heilsam. Ich fühlte mich eine Zeitlang recht elend. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich ihn nicht als Ganzes erkannte hatte! Es gab früher einige Situationen, da hatte ich den Eindruck, er würde sehr egoistisch handeln. Er schien nur an sich zu denken. Und vielleicht war das teilweise auch so. Aber das Anliegen dahinter, nämlich sich selbst zu spüren, erkannte ich nicht als solches. Ja, auch wenn ich mich sehr von ihm angezogen fühlte und er viele feine und sensible Seiten hatte, so wusste ich doch nicht genau, was mich anzog. Nun weiss ich es. Seine Suche nach der Liebe, nach der bedingungslosen Liebe, ist bzw. war auch meine Suche. Und dieser leuchtende Diamant, der am Schluss mit seinem Licht einen ganzen Raum erhellte, war schon immer in ihm... so, wie er wohl in allen von uns vergraben liegt. Darauf wartend, entdeckt zu werden.

 

Ich sehe immer klarer, dass die letzten Wochen und Monate mit Dominik geprägt waren von dieser bedingungslosen Liebe. Der Zeit und dem Raum enthoben ging es nur um die Liebe. Liebe für alles, was ist und damit auch für sich selbst.

Bedingungslose Liebe: Kein Aufopfern, kein Sich selber verlieren, keine Kontrolle, kein Wenn und Aber, kein Wollen, keine Absicht, Liebe ohne Bedingung, Geben und Nehmen, Einverstanden sein, dem Fluss des Lebens vertrauen, Liebe, die Raum und Freiheit gibt, Liebe, die nicht wertet und urteilt, Liebe, die einfach da ist, jetzt und hier.

 

Auch wenn ich zeitweise den Blick für diese Erkenntnis verlor, wird es mir immer wieder gegenwärtig. Auch wenn ich manchmal Mühe habe und an meine ganz persönlichen Grenzen stosse, so hat sich das Gefühl, welches ich schon mein Leben lang in mir trage, nämlich das Gefühl ein Suchender zu sein, mit dem Loslassen von Dominik aufgelöst. Ich glaube, ich bin bei mir und der Liebe angekommen. Auch wenn ich immer wieder wegdrifte oder diesen Diamanten, wie ihn Dominik so wunderbar emporhob und zum Leuchten brachte, aus den Augen verliere. Ich besinne mich wieder darauf und weiss, dass darin meine ganze Kraft, mein ganzes Leben liegt und wer weiss, sich vielleicht auch alle meine Leben um diesen Stern drehen.

 

In Dänemark erkannte ich ebenfalls, dass ich keine Angst zu haben brauche. Dass ich durchaus meinem Gefühl nachgeben kann und allenfalls auch alleine auf Reisen gehen kann. Ich erkannte, dass ein Leben wie ich es führte, bevor ich auf Reisen ging, nicht mehr möglich ist. Zu sehr habe ich die Freiheit gekostet und den eigenen Rhythmus gespürt. Zu sehr liebe ich es, Raum zu haben, der weder von viereckigen Wänden noch von Zäunen eingeengt wird. Kann durchaus sein, dass sich dies auch wieder einmal ändert. Aber im Moment würde es für mich nicht stimmen. Ich wähle lieber das Ungewisse und Unbeständige und bekomme dafür meine Freiheit und meinen Raum. Dominik hat mir diese Möglichkeit geschenkt und ich werde dieses Geschenk nach meinem besten Wissen und Gewissen einsetzen.

 

Seit ich von Dänemark, Mitte August, zurück bin, wohne ich bei Ruth. Eben jener Freundin, die (nicht nur) als Onkologie-Schwester Dominik während seiner Krankheit betreut hatte. Ihr Angebot, bei ihr zu wohnen, bis Zorro die Operationen überstanden hat und wir wieder reisetüchtig sind, nahm ich dankbar an. Unsere WG ist für beide eine neue Erfahrung. Mittlerweile würde ich sagen, eine der besonders wertvollen! Die Reflektionen, die durch die Gespräche mit ihr möglich sind, haben mir schon vieles bewusst gemacht. Ich habe mit ihr eine weitere liebe Freundin gewonnen. Einen Menschen, von dem ich glaube, dass er mit seinem Wesen nicht nur ein Geschenk für mich ist!

 

Mein geliebter Zorro hat in der Zwischenzeit die erste Operation mega gut überstanden. Die zweite Hüfte wird Ende September folgen und so das Leben will, werden wir schon bald wieder unterweX sein.