Der angekommene Frühling 2003 passt so richtig zu unserer Stimmung. Wir sind im Aufbruch. Bei vielen Dingen, die wir tun, ist uns bewusst, dass es für längere Zeit das letzte Mal sein wird: die
letzte Nacht im Wasserbett, das letzte Mal mit meinen Eltern zusammen sein, das letzte Mal den Zuger Sonnenuntergang sehen, das letzte Mal vom Zugerberg fliegen, und so weiter... mich überkommt
bei solchen Überlegungen ein bisschen Melancholie. Das Sehnen geht doch immer in Richtung des Fernen!
Wir haben uns von allen verabschiedet, überall und alles abgemeldet! Die Wohnung wird in den nächsten Tagen übergeben. Mittlerweile ist viel nützlicher und vor allem unnützer Hausrat verramscht,
verschachert, verschenkt und verteilt worden. Danke all den mitleidsvollen Seelen, welche sich unser erbarmt haben! Es ist wunderbar, Dinge verschenken zu können und nicht dem wilden und
ungeschützten Slumleben in einem Brocki preisgeben oder gar der Abfallverbrennung übergeben zu müssen. Leider landen immer noch viel zu viele Dinge auf der Strasse und fristen ein darbes und
unglückliches Leben! Jammer!
Und noch mehr Jammer: 24 (qualvolle) Stunden lebten wir im Ungewissen über Tigis (Schlüsselanhänger für den Schlüssel vom VW-Bus) Verbleib. Nachdem ich gar schon eine Vermisstmeldung im Internet
gemacht hatte, auf der Polizei anrief und einfach alles alles abgesucht hatte, tauchte dieser Schlingel doch plötzlich wieder auf. Ach, ich küsste ihn mehrfach, egal ob dreckig oder nicht, ich
musste ihn drücken und küssen. Er hatte sich im Büroschrank versteckt gehalten! So ein Schlawiner! Aber Hauptsache er ist wieder da, samt Schlüssel! Halleluia!
Aber zurück zur Befreiungsfront: Ich konnte mich von meinen Büchern trennen! Die allerliebsten (und das sind meine ältesten!) hab ich eingepackt. Etwa 1/3 bekam ein Literatur schätzender Freund
von Dominik, und der grosse Rest wanderte ab ins Brocki. Die Frauen dort haben fast meine Füsse geküsst!
Auch ansonsten leert sich die Wohnung. Im Wohnzimmer richteten wir eine Art Brockenecke ein und jeder Gast, der uns in den letzten Wochen besuchte wurde sozusagen genötigt etwas mitzunehmen. Es
hat Spass gemacht, vor allem dann, wenn Dinge, an denen man über Jahre hinweg halt doch ein bisschen das Herz gehängt hat, in Hänge gelangten, welche sie schätzen!
Nun ruft die grosse weite Welt: Befreit um einige 100 kg Ballast dürfte uns das Loslassen eigentlich leichter fallen. Insgesamt ist es aber doch nicht so einfach, wie ich dachte. Allein schon das
viele Abschiednehmen geht an die Substanz, egal ob von Menschen oder Dingen, an vielen und vielem hängt das Herz und es fällt manchmal gar nicht so einfach, "ciao" zu sagen.
Für lange ist die Trennung von Freunden und Familie allerdings nicht. Im Sommer schon werden wir wieder in der Schweiz sein, denn Dominik hat noch einigen Papierkrieg zu erledigen. Wir stellen
uns aber auch beide vor, dass wir der schönen Schweiz ab und zu einen Besuch abstatten. Überhaupt sind wir ja überhaupt nicht weit weg! Was sind schon 2000 km Distanz? Das hab ich meiner
Mamutschka auch klar gemacht, dass wir nur gerade bei den Nachbarn sind!
Nun geht es erst mal Richtung Malaga. Andalusien ruft! Da ich mir sowieso einen Hund zulegen will, scheint mir Südspanien genau der richtige Ort zu sein, um die Reise zu beginnen. Es wimmelt dort
von herrenlosen Hunden; hoffe, wenigstens einer wird gerne mit uns zusammen durch die Geschichte gondeln wollen!
Letzten Donnerstag besuchten wir die Diashow von Marthaler, der in 7 Jahren mit dem Fahrrad um die Welt reiste! Welche Strapazen, welche Anstrengung, welch wahnsinnige Leistung! 80 kg Gepäck auf
zwei schmalen Rädern. Wir haben so schätzungsweise rund 100 kg pro Nase dabei. Natürlich ist es kein Vergleich. Wir werden immer ein Dach über dem Kopf haben, werden mit unserem Azzi die
steilsten Berge ohne Anstrengung überwinden und gönnen uns nach dieser Tat ein kühles Bier aus dem Kühlschrank. Verglichen mit ihm sind wir Schlappis! Aber was solls, für solche Grenzforschung
fühl ich mich tatsächlich zu alt! Ich könnt mir zwar vorstellen, weite Strecken mit dem Fahrrad zu radeln, aber nicht bei Minustemperaturen, im Sumpf, mit allnächtlichen Störungen durch
patrouillierende Soldaten, mit Blasen an Händen und Füssen und weiss sonst noch wo. Nein, alles hat seine Grenzen. Auf der anderen Seite hat er vieles, was wir nicht haben, und er hat es
wunderbar erzählt: die Nähe zum Boden, zur Natur, die Reduzierung auf das Eigenständige, auf das selbst Machbare, die Erfahrung, mit den Elementen zu leben und sie annehmen zu müssen, die
Erfahrung der Gastfreundschaft! Das blieb mir am Eindrücklichsten: dort, wo die Menschen fast gar nichts mehr haben, teilen sie noch das Wenige mit dir; dort, wo sie alles haben, kriegst du nicht
mal ein Plätzchen zum Schlafen!
Diese letzten Tage hier in der Schweiz werden überschattet vom bis anhin drohenden und jetzt wahr gewordenem Irakkrieg. Lange habe ich geglaubt, es kann und darf nicht sein, was eigentlich schon
bald als unabwendbar sichtbar wurde. In mir herrscht ein Gefühl von Ohnmacht, Hilflosigkeit, von Wut und Trauer. Obwohl eine ganze Welt zuschaut und öffentlich Kritik übt, masst sich eine
Regierung, mit geringer Schützenhilfe, solch einen Alleingang an. Ich erschrecke ab solcher Macht und kann nicht glauben, dass es gut gehen kann. Ich glaube, es wird für alle gefährlich, wenn
sich ein Land so herausragend über die anderen hinwegsetzt und sich zum Richter aufspielt. Wer heisst denn nun noch wen willkommen? Die Amerikaner die Franzosen? Die Deutschen die Engländer? Die
Moslems die Amerikaner? Werden Dominik und ich in Marokko willkommen sein? Wir werden sehen, aber es stimmt mich traurig.
Es ist für uns ein Aufbruch in die Freiheit, aber auch ein Aufbruch ins Ungewisse, ein naher Krieg nimmt mir den Schwung und lässt mich nicht wirklich glücklich sein. Und wenn ich zuviel darüber
nachdenke, dann bleiben nur Tränen, welche nicht helfen und nichts ändern. Die momentane Flut an Informationen aus dem Kriegsgebiet macht einen schon nach kürzester Zeit stumpf. Wenn wir unterwex
sind, werden wir wohl nur noch am Rande mit den Meldungen aus dem Krieg versorgt sein. Ich glaube, ich werde darüber froh sein...
Nun möchte ich diesen Bericht aber nicht mit solch traurigen Gedanken beenden. Immer wieder kommt mir Hesse in den Sinn: "Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!". Ich freu mich, bald von
unterweX berichten zu können und meine und Dominiks Erfahrungen und Gedanken hier breitzuschlagen. Schreiben ist Balsam!