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Bilanz Ende 2006

Ich befinde mich seit gut einem Monat in Tunesien. Das Wetter ist, wie in ganz Mittel- und Südeuropa in diesem Winter ausserordentlich mild. Wir haben hier jeden Tag Sonnenschein, laufen barfuss herum, lassen uns sogar hin und wieder zu einem Bad im eiskalten Meer hinreissen, verbringen viel Zeit draussen und geniessen es sehr, hier in diesem "womofreundlichen" Land zu sein.

Wir, das sind nebst meiner Wenigkeit Zorro, Rainer und Henny. Zorro hat sich sehr gut von seinen Operationen an der Hüfte erholt und ist fast wieder der Alte. Das zweitoperierte Bein zittert manchmal, wenn er zuviel herum gerannt ist. Aber ich hoffe und denke, das wird sich auch nach ganz geben.

Rainer und Henny sind meine Reisegefährten für diese Winterreise. Sie haben ihre Yacht in Frankreich auf dem Canal du Midi eingewintert und wir haben uns dort getroffen, um gemeinsam in den Süden zu ziehen. Ich kenne die Beiden schon seit Marokko. Immer wieder haben wir uns unterwex getroffen, und Henny kam mich und Dominik sogar in der Schweiz besuchen, als wir mit "gestutzten Flügeln" daheim bleiben mussten. Sie sind reiseerfahrene "Campers", haben ihr Domizil in Deutschland ebenfalls aufgegeben und sich entschlossen, wie damals Dominik, dem üblichen Wohlstand zu entsagen und nicht noch mehr "auf die hohe Seite" zu legen, sondern früh genug das Leben und seine Freiheiten mit bescheideneren Mitteln zu geniessen.

Ihr Angebot, im Herbst zusammen loszuziehen, kam mir nach all der Zeit in der Schweiz sehr gelegen. Ich wollte im Womo leben, wollte wieder unterwex sein, nur eben nicht alleine. Der Abstand zur Schweiz und den Geschehnissen im letzen Jahr war für mich wichtig. Ich brauchte dringend Distanz zu allem. Es standen Entscheidungen an, denen ich mich noch nicht stellen wollte. Zudem war es mir ein grosses Bedürfnis, Dominiks Tod richtig zu verarbeiten. Das Wichtigste war, so glaube ich, herauszufinden, ob das Reisen für mich noch stimmt.

Damals auf unserer letzten Reise, Im Herbst 2005, waren Dominik und ich ein wenig reisemüde. Wir redeten viel von einem kleinen Haus im Süden, ein kleines Business, irgendwas im Zusammenhang mit der Fliegerei. Vielleicht eine Herberge, ein Backpacker. Wenn ich es mir recht überlege, war dies ja überhaupt die ursprüngliche Idee unserer Europatour! Wir planten, möglichst viel vom Süden Europas zu sehen, um uns irgendwann einmal, an dem Ort, der uns am besten gefiel, niederzulassen. Natürlich lieber später als früher. Jedes Land, jede Ecke wurde auf diese Variante hin kritisch angeschaut. Einmal, in Sizilien, war Dominik nahe daran, ein Stück Land zu kaufen. Wenn die Verkaufsverhandlungen nicht so harzig verlaufen wären, so hätte Dominik damals bei Caltagirone einen Flugberg erstanden! Ob ich darüber glücklich wäre? Ich weiss es nicht so genau. Damals waren wir unter dem Strich froh, ohne Ballast wieder weiterreisen zu können.

Besitz bedeutet Verantwortung. Viel Besitz viel Verantwortung. Wenn einem nur das mobile Heim gehört, mit dem man auf Reisen ist, so ist man eben recht leichtgewichtig und somit sorgenfreier unterwex. Auch wenn es an die 3 Tonnen wiegt! Diese 3 Tonnen aber ermöglichen immerhin den gewünschten Standard an Lebensqualität. Was in meinem Fall bedeutet, ein windgeschütztes und beheizbares Daheim mit richtigem Bett, die Möglichkeit, warm zu duschen, eine Toilette, ein Kühlschrank und Tisch und Bank zum Schreiben, Essen und Sein. Das ganze so handlich und klein, dass ich es eigenständig und mit möglichst viel Flexibilität manövrieren kann.

Mein Unterwex-Sein ist nun ein anderes als vorher. Erstens bin ich nicht mehr mit Dominik zusammen unterwex; mit dem Menschen, mit dem dies Leben für mich überhaupt erst begann, sondern alleine. Wenn auch in der Truppe! Zweitens wird das Reisen nicht mehr wie früher, durch die Aktivitäten der Fliegerei bestimmt. Es ist ruhiger geworden in meinem Reiseleben. Was ich früher manchmal zum Teufel wünschte, weil es mir zuviel wurde, fehlt mir heute ein wenig. Die herrlichen Orte der Fliegerei, die Kumpanei unter den Fliegern, das Aufspüren von Start- und Landeplätzen, das Beobachten von Wind- und geografischen Verhältnissen! Die Reiserei heute wird vor allem bestimmt von den Entdeckungen im neuen Land. Darum war es wohl gut nach Tunesien überzusetzen. Ein neues Land mit neuen Herausforderungen, neuartigen Klängen, und noch unbekannten Mentalitäten und Landschaften.

Nebst diesen Entdeckungen im Aussen, bedeutet es mir aber auch viel, in mich selbst hinein zu hören, meinem Sein nachzuspüren. Es findet eine Neuorientierung statt und es verändert sich von Monat zu Monat. Immer mehr werde ich wieder ich selbst, finde zurück zu meiner Mitte. Die Erlebnisse in der Vergangenheit fangen an, sich in mir einzurichten. Ich lerne, mit all diesen Bildern und Gefühlen, mit meiner Geschichte zu leben. Heute kann ich, seit acht Monaten das erste Mal, die Musik wieder hören, die Dominik und mich so sehr begleitet hat, ohne nur zu weinen. Ich höre diese Musik, bin ein wenig traurig, aber nicht so, dass es schmerzt. Sondern eher so, als ob da eine Seite ist, die berührt wird, die lebt und die ein Teil meines Selbst ist. Schwierig zu erklären. Es hat für alles Platz. Und das Wundervolle zwischen mir und Dominik bleibt lebendig. Das Womoleben stimmt für mich noch immer, nach wie vor sehr! Vielleicht würde ich mein mittlerweile recht betagtes Heim gegen ein neueres mit mehr Offroadmöglichkeit tauschen. Aber das ist Detail. Das Leben an sich im Womo sagt mir sehr zu. Es gibt zwar diese Momente, wo ich mir ein festes Daheim wünsche, den Garten dazu.... ...die vermeintliche Sicherheit der Beständigkeit halt! Das sind Momente, die wieder vorbei gehen. Noch ist der Drang zuwenig gross, als dass ich ihm nachgeben muss. Irgendwann wird es wohl soweit sein. Aber nicht heute und nicht morgen.

Das Jetzt geniessen, überhaupt im Jetzt sein, ist für mich immer noch eine der grossen täglichen Herausforderungen des Lebens. Ich meine sogar, eine Essenz der "Kunst des Reisens" (bin gerade sehr inspiriert vom gleichnamigen Roman von Alain de Botton!). Gerade auf Reisen, wo ich ja immer unterwex bin nach irgendwohin, bin ich gefordert, da zu sein, hinzusehen, zu lauschen und offen zu bleiben.
Mit Henny und Rainer geht das sehr gut. Sie sind ebenso bereitwillig spontan wie ich. Wir entscheiden uns immer kurzfristig, wohin es wann weiter geht. Finden wir einen Platz, an dem es sich gut sein lässt, bleiben wir. Wenn nicht, geht es weiter, am anderen Tag, wenn es dann immer noch passt. Es ist schön, dass wir ähnliche Vorstellungen von Stellplätzen haben. Zurück zum Jetzt. Das Vergegenwärtigen des Jetzt bedeutet für mich, das Wahrnehmen eines Momentes mit allen Sinnen. Möglichst nicht in der Vergangenheit zu hängen oder sich schon eine, wenn auch nahe Zukunft auszumalen. Das Wahrnehmen der Äusserlichkeiten mit gleichzeitiger Verbindung des Innern. Wie fühlt sich was an. Was klingt an beim Anblick von Wüste, bei Begegnungen mit Menschen, beim Hören des Meeresrauschen oder beim Anblick der Abermillionen von Sternen am Nachthimmel.
 
Offenheit ist ein weiterer wichtiger Teil. Das hört sich leichter an, als es ist. Tunesien ist ein gutes Beispiel. Meine Erfahrungen aus Marokko und erste Begegnungen in Tunesien liessen schnell ein ähnliches Schema im Umgang mit den Menschen aufkommen. In Marokko lernte ich, der Freundlichkeit zu misstrauen. Ein jedes Ansprechen seitens der Einheimischen war geprägt von der Absicht, einen Deal herauszuholen. Damals war diese Erfahrung auch neu und mittlerweile ist mein Horizont wohl etwas weiter geworden. Hier lerne ich, dass dem nicht nur so ist. Hier lerne ich, dass die Menschen auch einfach neugierig sind, es ihnen wichtig ist, einfach Small-Talk zu machen und vielleicht Kontakte zu knüpfen. Ich war über mich selber erstaunt, als ich feststellte, wie viele Vorurteile ich diesem Land mit seinen Menschen gegenüber mitbrachte, einfach aus den Erfahrungen aus einem anderen islamischen Land. Es ist auch neu für mich, dass ich eigenständig meine Erfahrungen mache. Da ist kein Partner, für den es ebenfalls stimmen muss, wenn ich mit einem Schäfer anfange zu parlieren, wenn ich ihm etwas zu essen gebe oder Zigaretten. Kein Partner ist da, der sagt, pass auf, den wirst du nicht mehr los, oder so. Und beim nächsten Mal vermeidest du prompt so eine Begegnung, aus Angst, er könnte Recht behalten! Aber ob es nun die eigenen Bilder sind oder jene eines Partners. Es sind Bilder, die einem im Weg stehen - Bilder aus der Vergangenheit - Bilder aus Gelesenem, Bilder aus Vorurteilen - Bilder aus Ängsten und vorgefassten Meinungen. All diese Bilder hindern einen, richtig zu sehen. Zu sehen mit offenen Augen und freien Sinnen und unvoreingenommenem Verstand. Sonst entgehen einem allerhand gute und vielleicht manchmal auch weniger gute Erfahrungen! Dabei! Gibt es etwas schöneres als hier im Jetzt zu sein mit dem Horizont für alles!?

Seit einiger Zeit denke ich nicht mehr dauernd an Dominik. Es gab vorher Tage, da war er oft gegenwärtig und gleichzeitig vermisste ich ihn so sehr. Jetzt vermisse ich seine Anwesenheit noch immer, aber es schmerzt nicht mehr so sehr. Es vergehen Tage, da denke ich tagsüber nicht allzu sehr an ihn, doch wenn ich dann abends im Bett liege, da kommen Erinnerungen hoch. Diese machen wehmütig. Das ist nicht schlimm. Schlimmer sind die Bilder, die seinen Tod begleiten, und die manchmal kommen und dann kaum wieder weggehen wollen. Es bleibt dann jeweils ein Gefühl von Unfassbarkeit. Dass ich damals nicht einfach davon gerannt bin! Oder überhaupt die Akzeptanz, dass diese Ereignisse ebenso real sind wie jene heute! Ich weiss, dass diese Geschehnisse nun zu meinem Leben, zu mir, gehören. Sie sind ein Teil von mir. Ich werde damit leben, wie andere Menschen mit ihren Geschichten leben müssen. Ich merke, dass sich die erschreckenden Bilder mit jenen voller Liebe immer mehr die Waagschale halten. Wenn dem ganz so ist, werde ich zufrieden sein.   

Heute denke ich, es war eine gute Entscheidung loszuziehen. Auch wenn die Konfrontation mit der Reiserei, dem Draussen-Sein, dem Unterwex-Sein ohne Dominik hart war und manchmal noch immer ist. Es sind im Endeffekt immer heilsame Schritte. Ich bewältige diese Aufgabe (fast) alleine. Und vielleicht ist auch dies mit ein Grund, dass ich denke, es sind wertvolle Schritte. Hier muss ich H&R, vor allem Henny, ein dickes DANKE sagen! Ohne sie hätte ich diese Möglichkeit nicht!!

Ich schätze die Anwesenheit von Henny und Rainer sehr. Der Austausch der erlebten Ereignisse, das Nicht-Allein-Sein im fremden Land, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung, die gemeinsamen Unternehmungen und noch vieles mehr. Vor allem wohl das Gefühl von Nicht-Allein-Sein. Denn einsam fühle ich mich nicht. Das ist wohl der grosse Unterschied. Wenn man mutterseelenallein ist, so wie ich es damals auf Sardinien war, dann fühlt man sich wohl auch sehr schnell einsam. Ist man hingegen mit Freunden zusammen, auch wenn man Alleine wohnt, dann ist das an sich eine gute Sache! Wenn auch nicht so gut wie mit einem geliebten Menschen! Immerhin kriegt im Moment vor allem der Zorro fast meine ganze Liebe. Und dann halt auch die Menschen, denen ich begegne. Ich meine, meine Offenheit, meine Bereitschaft, die Menschen zu mögen, ist gestiegen mit den Erfahrungen durch Dominik. Ich versuche, diese bedingungslose Liebe, die mir im Zusammensein mit Dominik begegnet ist, wach zu halten. Das ist nicht immer gleichermassen einfach. Ich bin ein sehr impulsiver Mensch. Da gibt es schon immer wieder Situationen, in denen ich wütend werde. Der Ärger verraucht aber jeweils wieder schnell. Ich versuche mich stets an die tieferen Wahrheiten zu erinnern. Es gibt ja noch so viel zu lernen!
 
Ein ganz grosser Unterschied hat sich ergeben seit Dominiks Tod. Das Gefühl angekommen zu sein! Menschen, die mich gut kennen, wissen, dass ich ein ewig Suchender bin oder war. Ich bin mir nicht sicher, ob sich dies auf Dauer verändert hat. Auf alle Fälle ist es neu und noch immer da. Das Gefühl, bei mir selbst angekommen zu sein, die innere Überzeugtheit, dass alles Wichtige in mir drin ist. Alles. Vor allem die Liebe.

Ich stelle mir eigentlich auch kaum die Frage, warum ich ein solches Schicksal habe und nicht ein anderes. Es ist so wie es ist. Der Verlust eines geliebten Menschen hinterlässt "nur" ein Loch im Aussen. Im Innern bleibt er bestehen. Und sind die wehmütigen Gefühle nicht sehr egoistisch? Mein heutiges Sein ist der Beweis, dass ich auch ohne Dominik leben kann. Es geht. Es geht immer weiter.

Wenn ich solche Überlegungen anstelle, dann komme ich auch nicht umhin, festzustellen, dass ich heute eine materielle Unabhängigkeit habe, die ich vorher nicht hatte. Also hat mir Dominik nebst unendlich vielen schönen Erlebnissen nicht nur die Liebe geschenkt, sondern auch eine grosse Freiheit. Bei diesem Gedanken werde ich gleich wieder traurig. Sein Leben für meine Freiheit? Dieser Gedanke erschütterte mich schon damals als er mit mir über sein Testament redete. Es kommt mir immer noch wie ein schlechter Deal vor. Ob sich dies jemals ändern wird? Ich hab hier (noch) keine Antworten, leider.

Alles in allem bin ich zufrieden mit mir und meinem Leben. Ich schätze mich glücklich, ein Leben führen zu dürfen, welches mir so sehr entspricht. Ich liebe dieses Leben, diese Welt und die Menschen. Und ich bin froh und dankbar für alles, was ist. - Wenn sich die Tunesier bedanken sagen sie "Shoukram" und legen dabei die Hand auf’s Herz.